Die Strichaktion im Artikel auf Spiegel.de
"Streicht doch lieber einer alten
Frau das Badezimmer" zitiert der Spiegel ein paar Westberliner Arbeiter,
die sich über den weissen Strich empört hätten. Das klingt
natürlich gut. Auf der einen Seite die unbeirrt ihren
Strich ziehenden Mahner der Zustände,
auf der anderen die in ihrem
Realitäts-Pragmatismus stumpfen
Arbeiter und pöbelnden Passanten. Doch was war während dieser
geschilderten Szene wirklich geschehen. Eine männliche Westberliner
Person war während eines Spaziergangs durch den Tiergarten plötzlich
mit dem befremdlichen Anblick konfrontiert, daß 2 junge Männer
einen weißen Strich an einen Metallzaun malen. Selbst wenn er gewußt
haben sollte, daß es sich um den Zaun eines der DDR gehöre-
nden Geländes handelte würde
es die sich ihm darstellende Situation nicht verständlicher machen.
Und deshalb sondert er kurzerhand die Empfehlung ab, lieber die Badezelle
einer alten Frau zu streichen. Eine nachvollziehbare Reaktion. Daß
so ein Kommentar später als Pöbelei bezeichnet wird gehört
zur Rhetorik der Psychologie von Gut und Böse, denn es rückt
diejenigen, die mit dieser "Pöbelei" gemeint sind in eine ehrenhafte
Position. Als un-
verstandene Kämpfer gegen das
Unrecht müssen sie sich vom Mob he-
rabwürdigen lassen, setzen
aber, wie in diesem Fall, unbeirrt ihre Arbeit
am Guten fort.
Aus diesem einen einzigen tatsächlichen
Passanten- Kommentar wird dann posthum auch noch üppiger Plural ("Manche
Passanten pöbelten, andere lachten.") wenngleich man berücksichtigen
muß, daß der "Spiegel" sich ja auf Zeitzeugenaussagen verlassen
mußte und niemand ihm sagte, wo sich jene einzige "Pöbelei"
abgespielt und wieviel es dererlei noch ge-
geben hatte.
Doch nicht nur die Wiedergabe der
Außenwirkung der Strichzieherei ist damit gehörig in die Hose
gegangen, auch die Festnahme ist nurmehr Drehbuch und "stille Post" statt
Recherche, wenn sich" im Grenzwall plötzlich eine unscheinbare, kleine
Tür auftat. Lautlos traten drei DDR-Grenzpolizisten durch den Türspalt
in den Westen, blitzschnell umzingelten sie einen der Mauermaler. Und zogen
ihn durch den Eisernen Vorhang zurück in den Osten. "
Daß sich weder plötzlich
noch eine kleine Tür auftat, durch die Grenzer lautlos heraustraten
und einen der Maler blitzschnell umzingelten, sondern diese bereits vorher
im Tiergarten-Dickicht auf ihrem eigenen Territorium (der noch zur DDR
gehörenden 5-Meter-Zone an der Westmauer), habe ich bereits auf dieser
Webseite im Text "Festnahme" durch die dortigen Beschreibungen anders bezeitzeugt,
ein Fortziehen in den Osten bestä-
tigen diese Schilderungen ebenfalls
nicht.
Die Lüge vom Abgeschobenwordensein
eines Teils der Mauerstrich- Pro-
tagonisten in die BRD taucht auch
im "Spiegel" auf, ebenso die angeb-
lichen Beweggründe der Strichmaler,
wenn es heißt, die Maler "woll-
ten die Mauer wieder sichtbar machen
als das, was sie war: meterhohe Grenz-Anlage eines Unrechtsstaates, der
seine eigenen Bürger wie Schafe einsperrte. " Kein Wort vom exkursionshaften
Charakter der Aktion als körperliche Grenz-Erfahrung der Berliner
Mauer, kein Wort vom Primärsinn
der Aktion als Grenzziehung des
Westberliner Lebensraums.
Der Artikel des "Spiegel" ist ein
Paradebeispiel für das, was bei der "Auf-
arbeitung" über den weißen
Strich schiefgegangen ist. Neben der Über-
bewertung der Weimarer Vergangenheit
als angeblich zentraler Motiv-
geber und gruppenbildender Hintergrund
sind es die hier erwähnten Irr-
tümer und Falschinformationen,
die sich im Spiegel exemplarisch für die übrige Berichterstattung
zeigen. Daß die Ursache dieser Verzerrungen ausschließlich
in den Falschinformationen der erstrangigen Zeitzeugen begründet liegt
muß bezweifelt werden, denn kleinere Hinweise, daß es sich
auch anders zugetragen haben könnte und die Aktion nicht vorrangig
politisch gemeint war finden sich sogar im Buch "Der weisse Strich" in
den Aussagen einiger der damals Beteiligten.
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